- Oral Poetry
- Oral Po|e|t|ry ['ɔ:rəl 'poʊɪtri ], die; - -:mündlich tradierte, schriftlose Sprachkunst (als Vorstufe literarischer Erzählkunst).
* * *
Oral Poetry['ɔːrəl 'pəʊɪtrɪ, englisch] die, - -, in der vergleichenden Literaturwissenschaft bezeichnet der Begriff Oral Poetry das kulturelle Phänomen der mündlich tradierten, schriftlosen Sprachkunst (als Vorstufe literarischer Erzählkunst). Die Theorie (»oral formulaic poetry«) einer ursprünglich mündlichen Epenkomposition (»oral composition«) entwickelten die Amerikaner Milman Parry (* 1902, ✝ 1935) und Albert Bates Lord (* 1912), wobei die Erkenntnis, dass die mündliche Darstellungsweise anderen Strukturgesetzen folgt als geschriebene Literatur, entscheidend war. Aus der Untersuchung der Struktur der homerischen Epen, die als typisch für ursprünglich mündliche Dichtung analysiert wurden, und der Darstellung der parryschen Theorie am Beispiel der epischen Lieder der südslawischen Guslaren (Gusle) postulierten sie spezifische »Kompositionsformeln« (u. a. metrische, rhythmische Strukturen; typische Motive, Szenen, Handlungsskizzen, Formelhaftigkeit) als Indizien mündlicher Dichtung. Diese Untersuchungen wurden in der weiteren Forschung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Traditions- und Rezeptionsbedingungen mündlicher Dichtung auch auf die schriftlich niedergelegte epische Dichtung der verschiedenen (u. a. auch afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen) Literaturen übertragen: in den germanischen Sprachen u. a. auf altenglische (»Beowulf«, Handschrift 10. Jahrhundert) und mittelhochdeutsche (»Nibelungenlied«, um 1200) Epen, in den romanischen Sprachen auf altspanische (»Cantar de mío Cid«, um 1140) und altfranzösische (»La chanson de Roland«, um 1100) Epen. Die Rezeption der Oral-Poetry-Forschung in der Literaturwissenschaft ist gekennzeichnet durch kontroverse Diskussionen über das Phänomen der Mündlichkeit, die v. a. Ursprungs- und Überlieferungstheorien innerhalb der Epen- und Volksliedforschung betreffen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert u. a. in Spanien von R. Menéndez Pidal, in Frankreich von J. Bédier und G. Paris (»Kantilenentheorie«) und in Deutschland von T. Frings und K. Lachmann vertreten wurden. Heute ist die Oral Poetry verstärkt Gegenstand einer interdisziplinären Verbindung von volkskundlicher, anthropologischer und folkloristischer Forschung mit strukturalistisch-semiotischen Literatur-, Sprach- und Diskurstheorien, wobei das komplementäre Verhältnis von Oral Poetry und Schriftlichkeit unter soziokulturellen, linguistischen und poetologischen Aspekten untersucht und als Kultur- beziehungsweise Kommunikationsphänomen vor dem Hintergrund spezifischer Bedingungen der Literatur-, Sozial- und Geistesgeschichte definiert wird.Erzählforschung. Theorien, Modelle u. Methoden der Narrativik, hg. v. W. Haubrichs, 3 Tle. (1976-78);E. R. Haymes: Das mündl. Epos (1977);Oral poetry, hg. v. N. Voorwinden (1979);V. Propp: Morphologie des Märchens (a. d. Russ., Neuausg. 1982);W. J. Ong: Oralität u. Literalität. Die Technologisierung des Wortes (a. d. Amerikan., 1987);P. Zumthor: Einf. in die mündl. Dichtung (a. d. Frz., Berlin-Ost 1990);Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Weltbildwandel. Literar. Kommunikation u. Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Lit. des MA. u. der frühen Neuzeit, hg. v. W. Röcke u. U. Schaefer (1996).
Universal-Lexikon. 2012.